Russland: Wie Nawalny alles gibt, um den Putinismus zu Fall zu bringen

2022-05-20 18:57:26 By : Ms. Dora Wang

Alexej Nawalny setzt dem Putinismus schwer zu: Der Oppositionsführer zwingt das System zu Entscheidungen, die es nicht treffen will.

Moskau/Washington, D.C. - Fünf Monate, nachdem der russische Geheimdienst einen Mordanschlag auf ihn vermasselt hatte, kehrte Alexej Nawalny kühn nach Moskau zurück und erklärte sich damit zum unangefochtenen Champion der politischen Opposition Russlands. Er war auf einem Flug nach Sibirien Opfer eines Giftangriffs militärischer Stärke geworden und wurde dann in komatösem Zustand nach Deutschland evakuiert, wo Ärzte von Weltrang sein Leben retteten und ihn rehabilitierten.

Nachdem es nicht gelungen war, ihn auf quasi abstreitbare Weise zu töten, wäre dem russischen Präsidenten Wladimir Putin nichts lieber gewesen, als dass Nawalny im Ausland geblieben wäre. Wohl wissend, dass er sich mit einem Verbleib in Deutschland in die Riege irrelevanter russischer Oppositioneller im Exil eingereiht hätte, die sowohl von den Behörden als auch von der russischen Bevölkerung routinemäßig ignoriert werden, kehrte Nawalny stattdessen nach Russland zurück und leitete eine akzelerationistische Strategie des Widerstands gegen den Kreml ein – um den Status quo zu brechen, auf die eine oder andere Weise.

Nawalny und seine Frau bestiegen eine Maschine der Fluggesellschaft Pobeda – Russisch für „Sieg“ –, vollgepackt mit internationalen Journalisten, die jeden Moment filmten. Die Rückkehr war ebenso stilvoll wie frech. Während das Flugzeug auf der Rollbahn beschleunigte, postete Nawalny ein Video auf seinem Instagram-Account, in dem seine Frau lakonisch ein Kultzitat aus dem äußerst beliebten russischen Kriminalfilm „Brat 2“ vorträgt: „Gib uns Wodka, Junge. Wir fliegen nach Hause.“

Nawalny beantwortete die Fragen der internationalen Presse auf Russisch, womit er öffentlich Putins Vorwurf widerlegte, er sei nichts weiter als ein westlicher Agent. Die Flugbegleiterinnen, die aufgeregt ein Foto mit ihm machten, sollten später ernsthafte Probleme mit den Behörden bekommen. Die Kühnheit seiner politischen Rückkehr – in einen Staat, der unweigerlich versuchen würde, ihn hinter Gitter zu bringen – mit dem Ziel, die Führung der politischen Opposition zu übernehmen, weckte Vergleiche mit der Rückkehr Lenins über Deutschland zum Finnischen Bahnhof vor über 100 Jahren.

Unmittelbar vor der Landung wurde der Flug im letzten Moment von einem Flughafen zum anderen umgeleitet. Nawalny wurde bei der Ankunft vor der Passkontrolle festgenommen und durfte seine Anwältin nicht mitbringen, unter dem Vorwand, sie sei noch nicht eingereist. Die drakonischen Maßnahmen am Flughafen – ganze Brigaden von Bereitschaftspolizisten umstellten das Terminal, um Nawalnys Anhänger von ihm fernzuhalten – sowie die Tatsache, dass die Behörden ihn festnahmen, bevor sein Pass abgestempelt werden konnte, zeigten die enormen Ängste, die er bei den Behörden mittlerweile hervorruft. Am nächsten Morgen wurde er eilig vor Gericht gestellt, dafür dass er in einem alten Fall, in dem er eine dreieinhalbjährige Bewährungsstrafe erhalten hatte, nicht zur Haft angetreten war. Nawalny war auf Vorladung nicht vor Gericht erschienen – er befand sich zu der Zeit in Deutschland und erholte sich von dem Giftanschlag. Das hastig organisierte Pseudo-Verfahren im Hinterzimmer einer Provinzpolizeiwache (das eher einem Troika-Schauprozess im Stil der 1930er Jahre ähnelte) hat gezeigt, wie verzweifelt oder aber wie unverfroren und dreist der Kreml ist.

Der Versuch des Kremls aufs Geratewohl, sich eines langjährigen Feindes zu entledigen, hat den traurigen Verfall der Fähigkeiten von einst gefürchteten Sicherheitsdiensten unter Beweis gestellt. Nawalny hat das Attentat nicht nur überlebt, er hat es auch zusammen mit der Enthüllungsorganisation Bellingcat untersucht und einen der Agenten, die versucht hatten, ihn zu töten, sogar persönlich angerufen und verhört. Seine spektakulär theatralische Rückkehr hat Nawalny von einem politischen Störenfried, den viele Russen in erster Linie für einen Anti-Korruptions-Aktivisten hielten, in einen globalen Staatsmann verwandelt, der die volle Unterstützung der internationalen Gemeinschaft genießt – auch wenn diese wenig tun kann, um ihn zu schützen.

Am Tag nach seiner Festnahme und Inhaftierung veröffentlichten Nawalny und sein Ermittlerteam einen abendfüllenden Recherchebericht über Putins geheimen persönlichen Palast. Die Untersuchung war ebenso hochtheatralisch, minutiös inszeniert und perfekt getimt wie die Rückkehr nach Russland. Die Ermittlungen brachten eine detaillierte Aktenspur – das Ergebnis ausgiebiger Detektivarbeit in den Tiefen des Internets – darüber zutage, welcher Oligarch und welche Geschäftseinheiten rechtliche Eigentümer welchen Teils des riesigen Palastgeländes und der angrenzenden Weinberge sind, sowie Aufzeichnungen über die zahlreichen Schmiergelder, die zur Finanzierung von einer Milliarde Dollar an Baugebühren geflossen waren. Nawalny war symbolisch in Putins privates Heiligtum eingebrochen und führte die russische Bevölkerung nun wie ein Tourguide durch dessen geheime Ballsäle, unterirdische Tunnel und geschmacklos dekorierte Schlafzimmer, während er Putin, seine psychologischen Schwächen und ästhetischen Vorlieben gnadenlos verspottete. Es war sein persönlicher Sturm auf den Winterpalast.

Das hybride politische Regime, das Putin aufgebaut hat, lässt viel Raum für alle Arten von Zweideutigkeit und Dampfablassen, für berufliche wie persönliche Belange. Die Leute dürfen meckern und sich beschweren und ihre Privatangelegenheiten verfolgen, solange sie nicht direkt das System herausfordern. Aber Nawalny hat das System direkt herausgefordert und zwingt es zu einer Entscheidung, wie mit ihm umzugehen sei, die es eigentlich nicht treffen will. Die Grenze zu überschreiten und Putins Privatvermögen ins Visier zu nehmen, hat noch nie ein russischer Dissident so schamlos getan, und auch frühere Ermittlungen Nawalnys gegen das Putin-Gefolge hatten solche direkten Angriffe auf den Präsidenten und seine Familie vermieden. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Niemand hat je das russische Hybridregime so direkt herausgefordert wie Nawalny. Er hat sich dem System entgegengeworfen – mit dem impliziten Ultimatum, dass er nicht aufhören wird, bis sie ihn entweder inhaftieren oder umbringen. Oder vielleicht auch inhaftieren und dann umbringen.

Der bisherige Konsens, den das Regime verordnet hatte; das empfindliche Gleichgewicht, das ein System schuf, in dem man unter dem Radar operieren konnte, und das es vorzog, dass die Menschen sich selbst zensierten, – und das brutale Gewalt nur sparsam und nach dem Zufallsprinzip einsetzte – wurde in dem Moment zerschlagen, als Nawalny in Berlin das Flugzeug bestieg.

Der historische Dissident, dem Nawalny am meisten ähnelt, ist Alexander Solschenizyn: ebenso energisch, eigensinnig, furchtlos, körperlich und moralisch tapfer und mit einer Konzentration, die an Besessenheit grenzt.

Ähnlich wie Solschenizyn will Nawalny das Regime, gegen das er kämpft, mit schierer Willens- und Persönlichkeitsstärke durchbrechen, und Drohungen mit ein paar weiteren Jahren in einem Lager bringen ihn davon nicht ab. Und wie Solschenizyn vertritt Nawalny einige harte nationalistische und konservative Werte, die Liberalen sowohl in Russland als auch im Westen Unbehagen bereiten und die in den jüngsten Gesprächen über ihn wieder aufgetaucht sind, während der Kreml wild nach Wegen sucht, ihn zu diskreditieren.

Durch seine Rückkehr im Angesicht von Drohungen der Regierung, ihn ins Gefängnis zu stecken, und der Unvorhersehbarkeit der möglichen Reaktion hat sich Nawalny quasi als Geisel in die Hände des Systems begeben. Er hat die Bedingungen seines Kampfes mit dem Putinismus bereits unwiderruflich umgestaltet. Als Reaktion auf die Verhaftung Nawalnys verabschiedete das Europäische Parlament eine nicht bindende Entschließung, in der die Europäische Union aufgefordert wird, die Arbeiten an der russischen Gaspipeline Nord Stream 2 zu stoppen. Das System schlug schnell zurück: Kurz darauf wurde die Wohnung von Nawalnys Pressesprecherin von der Polizei durchsucht; mehrere seiner profiliertesten Unterstützer wurden im Vorfeld der geplanten landesweiten Proteste festgenommen.

Nawalny hat sein eigenes Leben in einer bemerkenswerten Wette und einem sich beschleunigenden Vorstoß gegen das System aufs Spiel gesetzt. Die nationale Beteiligung an den Demonstrationen zeigt, ob diese Wette aufgeht.

Wladislaw Davidson ist Schriftsteller, Journalist und Künstler, der umfassend aus der Ukraine berichtet hat. Er ist Chefredakteur der Odessa Review.

Dieser Artikel war zuerst am 22. Januar 2021 in englischer Sprache im Magazin „ForeignPolicy.com“ erschienen – im Zuge einer Kooperation steht er nun in Übersetzung auch den Lesern von Merkur.de zur Verfügung.