Praxistest: Hobbykoch am Rande des Nervenzusammenbruchs - WELT

2022-03-03 06:01:18 By : Ms. Eausenso Bio

"Kocht das eigentlich noch jemand nach?" Diese Frage warf neulich ein Kollege in die Runde, als das neue Kochbuch von Sven Elverfeld aus dem mit drei Michelin-Sternen bewerteten Restaurant "Aqua" in Wolfsburg auf dem Tisch lag. "Wahrscheinlich nicht", war die Antwort, die sich zum Weckruf für ein Experiment entwickelte.

Sind diese immer dicker werdenden Folianten wirklich dafür konzipiert, eine Dreisterneküche für den Hausgebrauch zu erläutern? Oder sind sie nur buchgewordenes Ego, die schwersten Visitenkarten der Welt?

Vielleicht erfüllen sie heute die Funktion von Programmheften im Theater. Man sieht schon einmal vorher, was später auf der Bühne passiert, und nach der Vorstellung blättert man zu Hause darin, um sich an den Abend zu erinnern.

Das Kochbuch von Sven Elverfeld schien für einen Selbstversuch im Hightech-Kochen wie geschaffen. Das Nachkochen eines seiner Gerichte würde einer Mount-Everest-Besteigung gleichkommen. Und so näherte ich mich dem Vakuumgaren wie ein Bergsteiger der dünner werdenden Luft – mit langsamen Schritten.

War ich zuvor mit echtem Horror Vacui zurückgeschreckt, siegte nun die Neugier, ob sich das Experiment in einen Horrortrip des Sous-vide-Garens verwandeln würde.

"Lammrücken vom Hof Müritz in Knoblauch-Gewürzmilch pochiert, Paprika, Stangenbohnen und Ricotta" sollte der Test sein. Das Gericht besteht aus neun einzelnen Rezepturen, die auf dem Teller zueinanderfinden: Knoblauch-Gewürzmilch, Lammrücken, Bohnenbutter, weißes Bohnenpüree, Bohnenspirale, Ricottakugeln, Paprikastreifen, Lammjus und Olivenölkrokant.

Lamm und Bohnen sind eine herrlich klassische Kombination. Kopfzerbrechen bereiteten die für die Herstellung dieses Gerichts erforderlichen Geräte: Für die Bohnenbutter braucht man einen Hochgeschwindigkeitseisschaber für Gefrorenes der Firma Pacojet; für die Ricottakugeln einen Thermomix; für die Sous-vide-Zubereitung des Lammrückens bei Niedrigtemperatur ein Vakuumiergerät und einen Fusionchef, den computergesteuerten Tauchsieder mit Umwälzpumpe der Marke Julabo.

Ich besitze keines der aufgeführten Geräte. Eine kurze Recherche im Internet ergab einen grob geschätzten Investitionsbedarf von 7000 Euro. Thermomix und Pacojet wurden die ersten Opfer auf meiner Streichliste. Ein annäherndes Resultat müsste auch mit Pürierstab und Ausdauer zu erzielen sein.

Der Reiz dieses Rezeptes liegt im Einsatz der Sous-vide-Technik. Zusätzlich zum Fusionchef lieh ich mir von zwei Firmen Vakuumiergeräte. Von der Firma Lava den V.333, unter den Haushaltsgeräten eines der technisch ausgefeiltesten, von der Firma Henkelmann den Mini Jumbo, ihr kleinstes Profiküchengerät.

Die Apparate funktionieren nach zwei unterschiedlichen Methoden. Bei dem Haushaltsgerät wird die Luft direkt aus dem Vakuumierbeutel abgesaugt. Bei dem Profigerät legt man den Beutel in eine Kammer, in der ein Vakuum die Luft aus dem Beutel drückt. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Methoden liegt in ihrer Fähigkeit, Flüssigkeiten im Beutel zu vakuumieren.

Das Haushaltsgerät würde die Flüssigkeit in die Vakuumpumpe hineinsaugen und diese dadurch zerstören. Für das in der Gewürzmilch gegarte Lamm hatte ich mit dem V.333 also ein Problem.

Vakuumiergeräte sind herrliche Entertainer, wie ich feststellte. Die Nachbarskinder konnten sich an den beiden Maschinen nicht sattsehen. Diverses Spielzeug musste vakuumiert werden, nur um zu beobachten, wie sich die Beutel langsam wie eine zweite Haut darumlegten und es zum Erstarren brachten.

Der Sous-vide-Technik näherte ich mich mit kleinen Versuchsreihen. Eine 36 Stunden im Beutel gepökelte Rinderschulter wurde bei 90 Grad sechs Stunden mit dem Julabo Fusionchef gegart, ähnlich verfuhr ich mit einem mit Sonnenblumenöl und Lorbeer gewürzten Schweinebauch.

Dabei zeigte sich gleich, dass schon eine kleine Menge Öl von dem Haushaltsgerät angesaugt wird. Vom Hersteller bekam ich den Tipp, das mit der Marinade eingestrichene Fleisch vorher in Frischhaltefolie zu wickeln. Dadurch, dass die Fleischstücke mit der Marinade im Beutel in engstem Kontakt waren und schonend gegart wurden, entwickelten sie ein unvergleichliches Aroma.

Der computergesteuerte Tauchsieder, den man einfach in einen sehr großen Kochtopf schraubt, hatte das Fleisch bei exakter Temperatur mit einer Toleranz von 0,2 °C gegart. Einzig die verlockende Vorstellung, man könne morgens den Julabo anwerfen und abends wiederkommen und – Simsalabim, alles fertig, erwies sich als unrealistisch.

Durch die konstante Erhitzung kommt es über den langen Zeitraum zu einer Verdunstung, sodass nach einiger Zeit der Wasserstand unter das Minimum sinkt, und der Julabo sich von selbst abschaltet. Für so viel Hightech war die Maschine allerdings leicht zu bedienen und nach Gebrauch platzsparend zu verstauen.

Meine Versuchsreihe bestätigte auch meine Vorahnung, dass ich für das Lamm in der Gewürzmilch ohne den Mini Jumbo von Henkelmann nicht auskommen würde, weil das Flüssigkeitsvolumen nicht mit Klarsichtfolie zu bändigen sein würde.

Für die Zubereitung des Gerichtes schuf ich schließlich Realbedingungen und lud mir für den darauffolgenden Abend Gäste ein. Der Stress entstand nun ganz von selbst, als es darum ging, die Einkaufsliste abzuarbeiten.

Nach einigen erfolglos nach Bohnenkraut abgeklapperten Gemüsehändlern entschied ich mich für die letzte Rettung der Hobbyköche: den Gourmetsupermarkt Frischeparadies in München. Dass ich dafür 200 Kilometer mit dem Auto fahren würde, war mir da schon egal.

Hier sollte man eigentlich alles bekommen, doch das für die Ricottakugeln erforderliche Alginat hatten sie samt ihrem Molekularsortiment aus dem Programm genommen. Also bestellte ich das Pulver online per Express für den nächsten Tag.

Andere Tücken der bei erster Durchsicht recht einfach wirkenden Rezepte verbargen sich hinter den Pfeilen, die mit "siehe Grundrezept Seite XX" beschriftet waren. Für einen Großteil der Komponenten des Gerichtes waren entweder Lamm- oder Geflügelfond erforderlich. Die dafür benötigten Knochenmengen sah ich mich weder in der Lage herbeizuschaffen noch zu bewältigen. Also griff ich zu den Konzentraten einer dänischen Firma, die mir ein befreundeter Hobbykoch mit den Worten "die haben Wumms" empfohlen hatte.

Das Olivenölkrokant, dessen Rezept sich hinter einem Pfeil verbarg, musste ich auch streichen, weil die dafür benötigten Zutaten Isomalt, Glukose und zwei "Texturas" von Ferran Adriàs gleichnamiger Produktlinie mir zu kompliziert in Beschaffung und Handhabung erschienen.

Der Rest der Rezepte reichte schon aus, um mich einen ganzen Tag zu beschäftigen. Bei einigen Zutaten hatte ich einfach die falsche Jahreszeit gewählt. Flache Brechbohnen, die man für das Rezept mit dem Sparschäler häuten sollte, waren partout nicht aufzutreiben. Es gab nur Keniabohnen, die unmöglich zu schälen waren.

Die zusammengeklaubten Stängel Bohnenkraut ergaben längst nicht die erforderliche Menge, also musste ich mit getrocknetem aufstocken. Das Alginat blieb in der Post hängen, und so wurden meine Ricottakugeln zu leicht krümeligen Cremetupfern, weil ihnen das sphärenbildende Alginatbad fehlte. Mit dem Thermomix wären sie auch geschmeidiger geworden.

Richtig bereut habe ich, nicht auch noch den Pacojet bestellt zu haben. Der hätte die Bohnenkrautbutter in einen ansehnlichen grünen Streifen verwandelt. Stattdessen verunstaltete das getrocknete Bohnenkraut die Masse.

In der Schlussphase der Zubereitung hätte ich mir außerdem eine Küchenbrigade im Rücken gewünscht. Neun verschiedene Dinge im Auge zu behalten, kann einen Hobbykoch an den Rand des Nervenzusammenbruchs bringen.

Auch wenn ich auf der Schlussgeraden aus Erschöpfung etwas gehudelt habe – Punktabzug für meine Anrichtungsweise –, meinen Gästen hat es geschmeckt. Denn selbst wenn die Konsistenz nicht überall perfekt war, so schmeckte das Lamm aus seiner Gewürzmilch einfach sensationell. Zusammen mit den Bohnen, Paprikastreifen und Ricottakugeln war es auch in meiner rustikalen Variante eine überzeugende Komposition.

Ob ich mir deshalb nun den erforderlichen Maschinenpark zulegen werde? Ich glaube nicht. Für das Geld gehe ich lieber lebenslang jährlich einmal ins "Aqua". Und schaue mir danach die Fotos im Kochbuch an.

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