Carbon: Studenten, Forscher und Ingenieure basteln an leichterer Welt | STERN.de

2022-07-08 20:39:51 By : Ms. Sisi Xu

Westlich von Hamburg hinterm Elbdeich, zwischen verklinkerten Gemeinden und Apfelplantagen, soll die Zukunft liegen. Eine Zukunft, die, so verspricht man es dort, leicht und fest ist. Die Strom leitet, Hitze trotzt und massenhaft Energie sparen wird. Weil carbonfaserverstärkter Kunststoff ein ziemlich langer Name ist, heißt diese Zukunft dort einfach: CFK. Oder Carbon. Ein ebenso leichtes wie festes, steifes Material, aus dem gewaltige Flugzeugteile gebaut werden können, Formel-1-Rennwagen, ultraleichte Fahrradrahmen, Hightech-Yachten, die beim America's Cup mit 80 Kilometern pro Stunde übers Wasser fliegen. Aber inzwischen auch Elektroautos und Windräder, Brücken, Bratschen und Malls in der Wüste, denn auf sandigen, instabilen Böden braucht es leichte Materialien.

Am Stadtrand von Stade befindet sich das CFK Valley. Valley, Tal, klingt im flachsten Land etwas albern. Doch darum geht es Airbus und den anderen Gründern nicht. Sondern um Pioniergeist und um eine Vision: Sie wollen den gesamten Lebenszyklus des potenziellen Wunderwerkstoffs verstehen, verbessern und verlängern. Heute sind im CFK Valley über 100 Großkonzerne, mittelständische Unternehmen und Ingenieurbüros vernetzt. Dazu kommt der erste Hochschulcampus der Welt, auf dem Carbon studiert werden kann. Erst kürzlich waren Delegationen aus Asien zu Besuch – auch Korea und China planen nun Carbon-Valleys nach dem Stader Vorbild.

Carbon steht für Kohlenstoff, jenes chemische Element, das wie kein anderes in der Lage ist, vielfältige Verbindungen mit anderen Molekülen einzugehen. Eine Eigenschaft, die es zur Grundlage des Lebens auf der Erde macht – alles lebende Gewebe ist aus organischen Kohlenstoffverbindungen aufgebaut. In Stade geht es jedoch um das Potenzial industriell hergestellter, feiner Carbonfasern, mit denen sich Kunststoffe verstärken lassen.

Als Airbus in Stade für den A310 erstmals ein Seitenruder aus CFK herstellte, war das ein Wagnis: Damals, in den 80er Jahren, wusste man wenig über das komplexe Material. "Heute ist es unsere Lebensversicherung", sagt Werksleiter Kai Arndt, 45, in Stade geboren, ein Leben für Airbus. Es gibt viel zu tun für seine 2500 Arbeiter: Der neue A350 besteht zu 53 Prozent aus dem Baustoff. Niedriges Gewicht spart Kerosin, spart Millionen. CFK ermöglicht 20 Prozent leichtere Bauteile als Aluminium, weshalb Betriebskosten und Emissionen etwa ein Viertel geringer ausfallen – und sich die energieraubende Herstellung des Carbons schnell lohnt.

Arndt führt mit einem als Airbus-Basecap verkleideten Helm auf dem Kopf durch die Hallen, in denen die Flügeloberschalen des A350 gebaut werden. Zweieinhalb Tonnen leicht, 32 Meter lang, das größte je aus Carbon gefertigte Einzelteil im Flugzeugbau. Arbeiter rollern vorbei, moin, moin. In den Hallen lässt sich erahnen, dass sich der Aufwand, den CFK verursacht, vielleicht nicht in jeder Branche lohnt.

Allein die Maschinen, die es bearbeiten: ein Legekopf mit 24 Spulen, der über eine Flügelschalenform tanzt, darin die mit Harz getränkten Carbonfasern präzise und in vielen Schichten ablegt – und gleichzeitig mit einem Heizstrahler verklebt. Dann der Autoklav, der größte industrielle Carbon-Backofen der Welt, in dem die Flügel unter Druck gesetzt und bei 180 Grad Celsius stundenlang gebacken werden, um auszuhärten. Später werden die Ränder von Wasserstrahlschneidern mit Diamantköpfen abgeschliffen, die Flügel blassgrün grundiert und schließlich nach England verschifft. Schon bald sollen es Bauteile für zehn A350-Flieger pro Monat sein. Damit das zu schaffen ist, muss ständig an den Maschinen gefeilt werden. Dabei hilft die Zusammenarbeit mit den Valley-Partnern vor dem Werkszaun: In Sichtweite arbeiten Wissenschaftler des Fraunhofer-Instituts und des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt beispielsweise an Klebetechniken und mobilen, parallel arbeitenden Robotern. Der nächste Technologiesprung bei Airbus könnte sein, die Flügelschalen nicht mehr zu backen, sondern zu pressen.

Die Automatisierung der Produktion gilt als der Schlüssel, um Carbon massentauglich zu machen. Das Zeug muss einfach günstiger werden. Als BMW 2013 stolz sein Elektroauto i3 auf den Markt brachte, ein Serienfahrzeug mit Carbonstruktur, blieb der Erfolg aus – daran waren nicht nur die schwächelnden Akkus der ersten Generation schuld, sondern auch die hohen Preise.

Airbus ist der wichtigste Arbeitgeber in Stade, seit nach der Jahrtausendwende das Atomkraftwerk, die Salz- und eine Aluminiumfabrik dichtmachten. Die beschauliche Hansestadt mit ihren Fachwerkhäuschen und dem historischen Hafen hat knapp 50 000 Einwohner. Das Carbon lockt junge Menschen in die norddeutsche Provinz: Neben BWL kann man an der Hochschule Stade Carbontechnologie studieren. In den Werkstätten hinter der Mensa, von den Carbon-Studenten herzlich "Bunker" genannt, tüfteln sie an ihren Projekten. An einer ultraleichten Drohne etwa, die sich beim letzten Test in der Luft zerlegte und vom Himmel krachte. Nicht so schlimm: Das teure Material, mit dem sie arbeiten – ein Kilo Carbon kostet mindestens 20 Euro –, gibt es oft palettenweise von umliegenden Firmen geschenkt. Eine andere Gruppe hat den Tank und die Verkleidung eines Motorrads über zwei Jahre durch Carbon ersetzt und die Maschine so schon 50 Kilo leichter gemacht. Viele der Studenten Anfang 20 sind über ihre Hobbys zum Carbon gekommen, als Segelfliegerinnen oder Windsurfer. Anderen schien Maschinenbau einfach zu schnöde.

Wer in Stade studiert, tut das nicht wegen des Studentenlebens, sondern fürs Carbon. Es gibt fast keine Ferien, keine freien Freitage, Anwesenheitspflicht in allen Kursen, 80 Prozent studieren dual bei Airbus. "So schlimm ist Stade aber auch nicht", sagt Matthias Meyer, 21, ein blonder Hüne im Karohemd. Es gibt ein paar kleine Kneipen, das Apropos oder das Pipapo, auch ein Kino. Im Sommer kann man nach Bützfleth an den Strand fahren. Und wenn gar nichts mehr geht: mit dem Semesterticket ab nach Buxtehude oder Hamburg.

Was Meyer am Werkstoff besonders gefällt: "Es gibt nie den einen richtigen Weg, etwas mit Carbon zu bauen, sondern unendlich viele. Carbon gibt Raum, sich spielerisch auszuprobieren, auch mal zu scheitern." Seine Partnerin im Drohnen-Projekt, Mareike Schuster, 21, ergänzt, gerade die vielen Parameter bei der Herstellung seien vertrackt: Wenn das Material älter ist, wird es trockener. Wenn es Wasser gezogen hat, klebt es nicht mehr. Oder überall dort, wo es nicht kleben soll. Vor dem ersten Backen würde immer alles hübsch eingepackt – "und dann kommt es nie so raus, wie wir uns das vorgestellt haben. Das spornt echt an".

Die Freiheiten der Studenten und die schwarzen Löcher in der Forschung haben mit der jungen Geschichte des Werkstoffs zu tun, über die man sich in der Wissenschaft etwas uneins ist. Soviel ist sicher: Ende des 19. Jahrhunderts wurden Kohlenstofffäden für Glühlampen entwickelt. Ab den 40er Jahren forschten Amerikaner verstärkt an den Fasern. Doch es waren schließlich japanische Firmen, die Geduld und Milliarden investierten, um Carbon zur Industriereife zu bringen. Sie brachten in den Sechzigern erste Produkte heraus, die sie durch viele Patente absicherten. So beherrschten sie über Jahrzehnte den Markt. Bis in die Neunziger blieb CFK ein Nischenprodukt mit ein paar tausend Tonnen Jahresproduktion. Weil aber viele der japanischen Patente ausliefen und damit Lizenzgebühren entfielen, stiegen andere Hersteller weltweit groß ein. Der neue Wettbewerb und die steigende Menge ließ die Preise fallen, was den Markt antrieb. So liegt heute der Carbon-Bedarf bei 60.000 bis 70.000 Tonnen pro Jahr, mit zweistelligen Wachstumsraten. 2020 soll die Marke von 100.000 Tonnen durchbrochen werden. Was im Vergleich zu 1,6 Milliarden Tonnen in der Stahlproduktion noch immer sehr wenig ist. Doch es geht nicht darum, Stahl zu ersetzen, sondern den Leichtbau zu revolutionieren.

Eine halbe Autostunde von Stade entfernt, am Stadtrand von Bremervörde, sitzt eines der spannendsten Unternehmen des CFK Valley. Vom Bauernhof gegenüber schaut eine Kuh, die Wiese um das Gelände ist von Maulwürfen zertobt. Björn Strehl, Gründer und Chef von Strehl Kinderreha- und Orthopädietechnik, hält das nicht für Provinzromantik. Denn: "Provinz ist nur da, wo keine Innovation ist." Sicher also nicht in den hellen Feng-Shui-Räumen seiner Firma, wo die Frauen am Empfang Headsets tragen und von jeder Wand das Maskottchen lächelt, Anton, das Chamäleon.

Strehl und seine 42 Mitarbeiter bauen Orthesen, Prothesen und Rollstuhlsitze für schwerstbehinderte Kinder – aus Produktionsabfällen von Airbus. Jeden Monat bekommt der 47-Jährige eine Kiste mit 50 Kilo Verschnitt geschickt. Nicht nur deshalb ist Strehl eine Vorzeigefigur für das CFK Valley. Der Unternehmer mit Glatze, Sakko und Jeans hat Bewegendes zu erzählen. Als Kind sollte ihm wegen eines Tumors der Fuß amputiert werden. Die Reha-Techniker auf der Station waren damals seine Helden. Björn Strehl durfte seinen Fuß schließlich behalten, beschloss aber, auch einmal Orthesen zu bauen. Carbon ist für diese Stützen heute ein ideales Material, leicht, fest und trotzdem biegsam. "Nicht mehr so Forrest-Gump-mäßig aus Stahl und Leder", sagt Strehl. Durch den Austausch mit Airbus-Ingenieuren konnte sein Unternehmen das Gewicht weiter reduzieren – die leichteste Orthese wiegt 72 Gramm. Jedes Modell wird in Maßarbeit handgefertigt. Und die Oberfläche kann mit Kinderträumen bedruckt werden, mit Pferdchen oder HSV-Mustern.

Wer wissen will, wo die restlichen Carbonabfälle landen, muss noch einmal zurückfahren. Vorbei an Stade, an Kirschbäumen und Windrädern, bis nach Wischhafen zur Karl Meyer AG, einem Familienunternehmen mit 700 Mitarbeitern. Tim Rademacker, 38, Warnweste über dunkelblauem Zweireiher, steht vor einer von nur drei Anlagen weltweit, die Carbon industriell recyceln können. Mit Experten des Chemie-Riesen Dow entwickelten die Abfall-Spezialisten aus Wischhafen eine Anlage, die das Harz verbrennt und die Fasern wieder freilegt. Auf der Halde vorm Werk liegt ein zerstörtes Windrad. Aus. Vorbei. Doch solche Produkte sind die Ausnahme: 90 Prozent des Mülls sind Spulen mit Carbonresten, vermurkste Teile oder Verschnitte. Die Anlage legt aus den Resten in wenigen Minuten stumpfe, schwarze Fasern frei, die wie das Material für eine Liza-Minnelli-Perücke aussehen. Daraus lassen sich Vliese weben für die Innenverkleidungen von Flugzeugen, für antistatische Handyschalen oder stabile Traktordächer.

Die Endprodukte lassen sich außerdem zu kaviarähnlichem Granulat verarbeiten, aus dem Teile für Laptops oder die Armaturenbretter von Autos hergestellt werden können. Und das alles viel günstiger und energieärmer als mit Erstcarbon.

Doch noch ist die Anlage nicht ausgelastet. "Theoretisch ist massenhaft Material da, doch es lohnt sich erst, mehr zu recyclen, wenn mehr nachgefragt wird", sagt Rademacker.

Den Unternehmern im Tal der Tüftler geht es wie ihrem Werkstoff selbst: längst ist nicht alles ausgereizt. Und ausgereift.

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