Stellen wir uns einen idealen Möbeldesigner in einer idealen Welt zu einer idealen Zeit vor. Stellen wir uns vor, dieser sehr ambitionierte Möbelmacher würde sich eines Morgens in seinem Designerschreibtischstuhl zurücklehnen, die Füße auf dem kratzfesten Designerschreibtisch ablegen, seine Arme hinter dem kahl geschorenen Kopf verschränken, die Augen schließen und, wie er es von Zeit zu Zeit täte, über das ideale Material für Möbel nachsinnen. Klar ist: Dieses Material dürfte nichts von all dem haben, was einen wahren Gestalter an den üblichen Rohstoffen beschränkt oder ärgert. Es müsste also viel flexibler als Holz, günstiger als Stahl, haltbarer als Glas, ehrlicher als Furnier und langlebiger als Textilien sein. Es müsste einfach und vielseitig zugleich sein. Was, fragte sich unser Möbelmacher, ist universell einsetzbar, stabil, dauerhaft und leicht zu verarbeiten?
Auf diese Frage gibt es nur eine einzige mögliche Antwort: Plastik. Plastik ist das Chamäleon unter den Werkstoffen - es ist formbar wie Knetmasse, verfügbar wie Wasser, in beliebigen Quantitäten herzustellen und vor allem spottbillig. Als kompletter Kunst-Stoff lässt es sich zudem mit genau jenen Charakteristika versehen, die ein Gestalter ihm gern mitgeben möchte. " Kunststoff ist ein Trickser und Täuscher", sagt Ernst Schmachtenberg, Professor für Maschinenbau an der Universität Essen, "er hat keine eigene Identität. Kunststoff kann alles sein, vom Kunstleder-Imitat bis zum Joghurtbecher." Kartell ist Pionier bei Kunststoffmöbeln. Und bekommt in den achtziger Jahren ein Problem, als es heißt: "Jute statt Plastik" .
Oder zum Beispiel ein Möbel. Verner Panton entwarf bereits 1955 mit "Side Chair" den ersten hinterbeinlosen Stuhl aus Vollkunststoff. Drei Jahre später entwickelten Charles und Ray Eames einen Stuhl aus fiberglasverstärktem Kunststoff mit Stahlgestell. Den ersten Komplett-Kunststoffsitzer, einen klobigen Kinderstuhl aus leuchtend rotem beziehungsweise reinweißem Plastik, erdachten 1964 Marco Zanuso und Richard Sapper im Auftrag des italienischen Möbelproduzenten Kartell - einer Firma, die sich bereits mit einer Serie Leuchten und Haushaltsgegenständen aus Plastik einen Namen gemacht hatte.
Design-Größen wie Joe Colombo und Achille Castiglioni formten für das Unternehmen (Kunststoff-)Möbel, Gino Colombini machte die Firma mit Haushaltshilfen aus Plastik berühmt. "Kartell steht für eine lange Serie sehr klarer Ideen", sagt Tom Dixon, Design-Direktor beim Möbelhaus Habitat in London. Wenn Plastik die Botschaft ist, war Kartell in diesen frühen Jahren ihr potentester Prophet. Plaste war, wie sich bald herausstellte, allerdings auch ein schwieriges Material. Für seine Herstellung benötigt man Erdöl oder Erdgas, außerdem zerkratzten oder zerbrachen sie. Lange Zeit ließen sich Kunststoffe nur schwer recyceln und galten daher nach dem Ölpreisschock als ökologisch problematisch.
Plastik wäre deshalb eben auch nur für den idealen Möbelmacher in einer idealen Welt das ideale Material. In der wirklichen Welt hatte es ein gigantisches Image-Problem. Polypropylen & Co haftete der Ruch des Wegwerfproduktes an, Plastikkultur ist der Inbegriff für oberflächliche, ganz und gar wertlose Artikel. Mit der Pop-Art-Ära ging so auch das Kunststoff-Zeitalter erst einmal zu Ende, die ökobewegten Achtziger wurden zum rabenschwarzen Jahrzehnt für diesen Werkstoff. Umweltbewusste trugen damals Einkaufstaschen mit dem Aufdruck ,Jute statt Plastik" spazieren, Kunststoff verschwand aus den Schaufenstern und Showrooms; Designer beschäftigten sich mit allem Möglichen, nur eben nicht mit einem: Plastik.
So wie das Image von Plaste verliert die Firma an Wert. Bis ein Ex-Mode-Unternehmer den Rebirthing-Kurs einleitet.
Das war das größte Problem. Denn Plastik pur hat quasi keinen eigenen Wert, es kann alles oder nichts sein, und was es ist, hängt ausschließlich von der Gestaltung ab. In dem Moment, in dem sich die Designer von ihm abwandten, war Plastik deshalb bereits so gut wie tot. Das bekam Mitte der Achtziger auch Kartell zu spüren, das sich eine Zeitlang noch mit postmodernen, dem Memphis -Hype nachempfundenen Entwürfen zur Wehr zu setzen versuchte. Dann wurde erst die Lampen-Serie, schließlich die Haushaltsserie eingestellt. Die Kartell-Möbel verstaubten in den Läden. Allein die Labware-Division, die Reagenzgläser und -kolben aus Kunststoff für den Laborbedarf herstellte, produzierte munter weiter.
Mitten in dieser trüben Zeit übernahm Claudio Luti das Unternehmen. Luti, 54 Jahre alt und Norditaliener, sieht aus wie eine mediterrane, also besser gekleidete, besser gestimmte und leicht gebräunte Version von Klaus Zumwinkel. Wie der Post-Chef und Ex-McKinseyaner hatte auch Luti seine Karriere als Berater begonnen. Einer seiner ersten Klienten war ein junger Modemacher, dessen Bruder er beim Militärdienst kennen gelernt hatte: Gianni Versace. "Gianni und ich begannen 1976 bei null, wahrend nebenan gerade Armani, Ferre und all die anderen jungen Modemacher ihre Geschäfte aufmachten" , sagt er. "Es war eine tolle Zeit in Mailand. Ich war der richtige Mann, zur richtigen Zeit, am richtigen Ort." Der Berater Luti wurde schnell zum Finanzchef befördert, vom Finanzchef zum Sozius des Modemachers. "Gianni war für die Mode zuständig, ich für das Geschäft." Zwölf Jahre später hatte Versace einen Umsatz von rund 520 Millionen Euro und Claudio Luti ein ernsthaftes Problem: Mit zunehmendem Erfolg des Unternehmens wollten Versaces Geschwister auch mehr Einfluss im Unternehmen haben. Er sagt: "Giannis Familie wollte die Strategie mitbestimmen - dabei war es meine Strategie. Das konnte ich nicht akzeptieren." An einem "sehr schmerzhaften Tag" verkaufte Luti schließlich seinen 30-prozentigen Anteil am Unternehmen, wechselte die Kleidung ("Ich habe seitdem nie mehr Versace getragen") und machte sich auf die Suche nach einem neuen Betätigungsfeld. Sein neues Unternehmen, so viel war klar, sollte auf jeden Fall ein bisschen so sein wie das alte: innovativ, international, mit einer starken Marke und in irgendeiner Form mit Ästhetik als Produkt. Eines Tages im Jahre 1988 setzte er sich in sein Auto, fuhr in den Mailänder Industrievorort Noviglio und kaufte Guilio Castelli, dem Spiritus Rector, Gründer und zunehmend glücklosen Besitzer von Kartell, sein Unternehmen ab.
Das war der Beginn eines äußerst gewagten Experiments. Denn was der neue Besitzer in den Folgejahren mit seiner neu erworbenen Marke versuchte, war nicht weniger als eine totale Image-Korrektur, die radikale Aufwertung eines Billigprodukts. Etwa so, als würde jemand probieren, Kentucky Fried Chicken in Delikatessläden zu verwandeln und McDonald's als ein Sterne-Restaurant zu etablieren. Luti wusste, dass er für einen solchen Rebirthing-Kurs zunächst das Produkt selbst ändern musste. "Wir mussten weg vom Billig-Image, weg von der klassischen Plastik-anmutung, weg vom Niedrigpreis-Segment", sagt er. Das war die schlechte Nachricht. Die gute Nachricht lautete: Das nötige Konzept existierte bereits beim Möbelmacher Kartell, es musste lediglich neu belebt werden: " Innovative Techniken plus tolles Design. Und das Ganze aus industrieller Herstellung, um den Preis niedrig zu halten." Mit dem Designer Philippe Starck gelingt die Wende. Sein Stuhl "Dr. Glob" macht Kartell bekannt - und rehabiliert Plastik.
Der Erste, der das enorme Potenzial dieses Konzepts erkannte, war Philippe Starck. Zusammen mit Lutis Ingenieuren entwickelte der französische Super-Designer das erste Plastikprodukt einer neuen Generation: ein Stuhl, dessen Oberfläche matt (statt glänzend) erschien, der zwei Materialien (Stahl und Kunststoff) verband und der in Pastell statt der gewohnten Primärfarben auf den Markt gebracht wurde. Vor allem aber brachte er das künstliche Material Plastik mit archaischen, vertrauten Möbelformen zusammen - eine Kombination, die Starck seitdem zig Mal wiederholt hat. Und jedes Mal mit Erfolg.
"Dr. Glob" - so der Name dieses ungewöhnlichen Stuhles - war der Joker, mit dem Claudio Luti das Spiel um Image und Umsätze für sich entschied. "Von Dr. Glob haben wir bereits im ersten Jahr 50000 Stück verkauft", erinnert er sich. "Binnen Monaten waren wir in allen wichtigen Schaufenstern der Welt vertreten. Das war ein enormer Erfolg - nicht nur für uns, sondern auch für das Ansehen von Plastik." Der Chef schwärmt von der Polypropylen-Revolution, sanften Kurven, geraden und exakten Profilkanten.
Die notwendige Technik für Starcks außergewöhnliche Ideen lieferte nicht nur Lutis Forschungsabteilung, sondern fast die gesamte Industrie. Neue Formen, Farben und Verarbeitungsmöglichkeiten wurden aus dem Fahrzeugbau, der Getränkebranche und vielen anderen Disziplinen entliehen oder, wenn es noch keine vernünftigen gab, selbst entwickelt. Zusammen mit Starck entstand so "La Marie", der weltweit erste transparente Stuhl aus Polycarbonat. Die Technologie hinter "Bohem", einer Serie vasenförmiger Hocker, die in diesem Jahr auf den Markt gekommen ist, stammt aus der Herstellung von Mineralwasserflaschen. Lutis allemeuestes technisches Spielzeug, der so genannte Rotationsguss, dient üblicherweise zur Produktion von Motorradtanks. Bei Kartell wurde daraus Philippe Starcks "Bubble-Club"-Sofa, Gewinner des diesjährigen Compasso-d'Oro-Designpreises.
Stück für Stück wurde der Werkstoff Plastik so rehabilitiert, das Material emanzipierte sich und demokratisierte gleichzeitig das Möbeldesign. Dank industrieller Fertigungsmethoden ist Kartell für eine Designmarke relativ günstig. Dass das signalrote Kartell-Logo jedoch überhaupt wieder als Designmarke wahrgenommen wird, verdankt Luti jenem halben Dutzend Hausdesigner, die er in den vergangenen Jahren um sich scharte wie eine Entenmutter ihre Küken: fast ausschließlich etablierte, populäre, ältere Gestalter wie Michele De Lucchi, Vico Magistretti, Antonio Citterio, Ron Arad und eben Superstar Philippe Starck.
"Gerade habe ich wieder drei Stunden mit einem jungen Designer verbracht", sagt Luti. "Er hatte schöne Ideen, aber nicht für uns. Ich brauche erfahrene, charakterstarke Gestalter, die unsere Philosophie sofort verstehen." Jedes neue Kartell-Möbel koste ihn schließlich ein bis drei Jahre Entwicklungszeit und zwischen rund 100 000 und 500 000 Euro. Der Trick dabei ist: Man sieht ihm die Mühe, die drinsteckt, partout nicht an.
"Schauen Sie", ruft Luti, springt auf und stemmt seinen Konferenzstuhl aus pastellfarbenem Polypropylen in die Höhe, "dieser Stuhl hier - fällt Ihnen daran etwas auf? Nein? Dann sollten Sie mal genauer hinschauen. Erstens: Es handelt sich hier um den ersten Plastikstuhl ohne Stahlverstärkung - das Ergebnis von zwei Jahren intensiver Forschung. Zweitens: Die sanfte Kurve in der Lehne - sie gibt ihm enormen Halt. Das ist sensationell. Drittens: das einfache, maschinell zu fertigende Befestigungssystem - eine Weltneuheit. Viertens: die Profilkanten - gerade und exakt wie bei einem Holzstuhl. All das sind nur Details, aber zusammen ergeben solche Details eine Revolution." Kartell fertigt nicht mehr, sondern lässt fertigen. Die Fabrik ist in Wirklichkeit ein Konglomerat von gut hundert Lieferanten.
Diese "Revolution", die Claudio Luti so begeistert hochhält, ist heute der meistbesessene Designstuhl aller Zeiten. "150 000 verkaufte ,Maui'-Chairs von Vico Magistretti - das ist Weltrekord", berichtet der Kartell-Präsident stolz. "Unsere Fabrik arbeitet 24 Stunden am Tag, samstags und sonntags." "Unsere" Fabrik, das ist in Wirklichkeit allerdings ein Konglomerat von gut hundert Lieferanten, die in Norditalien für Kartell fertigen. Unter dem signalroten Dach des Kartell-Stammsitzes in Noviglio selbst wird kein einziges Möbel mehr gefertigt. Wo früher die Arbeiter spritzten und gossen, befindet sich heute ein - sehr sehenswertes - Museum mit Möbelstücken aus der Unternehmensgeschichte. "Als ich zu Kartell kam, stand hier noch eine Maschine für Polyethylen", erzählt Luti. "Ich will aber kein Möbelstück aus Polyethylen entwerfen, nur weil ich eine Maschine auslasten muss. Also habe ich sie rausgeschmissen." Und auch das ist sicher nicht die letzte Wende bei Kartell. Wahrscheinlich wird sich die Marke, die mit Plastikmöbeln bekannt wurde, zunehmend vom Plastik-Zeitalter verabschieden. "Uns interessiert im Prinzip jedes Möbel, das Innovation und Design verbindet und sich industriell herstellen lässt", meint Luti, der von sich sagt, er hasse nichts mehr als jene billigen weißen Plastikstühle, wie sie heute weltweit auf den Terrassen von Cafes und Restaurants zu besichtigen sind. "Ich bin kein Missionar dieses Materials. Ich mag es auch nicht, wenn Leute ihr Haus ausschließlich mit Plastik einrichten. Sie haben die Idee nicht verstanden. Es gibt so viele interessante Materialien jenseits von Kunststoff - auch für uns." Das sei etwas, das er von Versace gelernt habe, schließt der Präsident, lehnt sich zurück und verschränkt die Arme hinter dem Kopf: nie zufrieden zu sein, nie stillzusitzen, sich nie auf Erfolgen auszuruhen. "Gianni konnte vor einer neuen, perfekten, atemberaubenden Kollektion sitzen. Fünf Minuten später sprang er auf und sagte: Die nächste Kollektion, die wird richtig gut." Genauso geht es mir heute. Unser Katalog ist sicher ganz gut. Aber der nächste, der wird hervorragend."