In der US-Hauptstadt Washington befindet sich der modernste Supermarkt der Welt. Der Erfahrungsbericht eines neuartigen Shoppingerlebnisses ohne Kassen und Schlangestehen.
In der Wirtsstube hinter der getäferten Fassade des «Old Europe» an der Wisconsin Avenue in der US-Hauptstadt Washington wird im Dirndl serviert – von Hering, Wiener Schnitzel bis zur Curry-Wurst gibt es fast alles, was der nostalgische Heimwehgermane begehrt. Der Kontrast zum modernen Glas- und Metallpalast schräg gegenüber ist massiv. Hier unterhält «Whole Foods» seit Mitte Februar auf 2000 Quadratmetern den modernsten Supermarkt der Welt.
Die Edelsupermarktkette gehört seit 2017 dem datensammelnden E-Commerce-Giganten Amazon. Mitglieder von «Amazon Prime» kommen hier in den Genuss eines völlig neuen Shopping-Erlebnisses: Dank der «Just Walk Out»-Technologie laufen Shopper mit ihrem «Einkauf» einfach aus dem Laden – ohne an der Kasse oder am Self-Check-out Schlange zu stehen.
Möglich macht das ein hochkomplexes Kamera- und Sensorensystem, das wie eine künstliche Intelligenz bei fahrerlosen Autos das Verkehrsumfeld, Einkauf, Artikel und Kunden vollständig erfasst. Auch bezahlt wird automatisch, die Quittung kommt ein paar Stunden später per E-Mail.
Ich gebe zu, dass ich Vorbehalte gegen den sogenannten Überwachungskapitalismus hege. Beim Gedanken an ein allwissendes digitales Handelssystem, in dem ich für Waren und Dienstleistungen nicht nur Geld, sondern über Apps auch meine privaten Vorlieben und Verhaltensmuster als Daten für individualisierte Werbung und den nächsten Einkauf liefere, schwingt immer auch die Angst vor Big Brother aus George Orwells «1984» mit. Doch die Neugier ist stärker – ab in den neuen Whole Foods!
Schon am Eingang schwant mir, dass der Preis für Einfachheit und Convenience von Orwell festgelegt wurde. Eine freundliche Concierge nimmt mich unter die Fittiche, um meine Mitgliedschaft bei «Amazon Prime» zu bestätigen. Ich brauche entweder die entsprechende App auf meinem Smartphone, welche mir via QR-Code die elektronischen Schranken öffnet.
Oder ich kann an einem «One Palm»-Scanner meine Handfläche erfassen, mit meinem Amazon-Prime-Nutzerkonto verbinden und per Handauflegen den Laden betreten. Da mir meine Biometrik lieb und teuer ist, wähle ich die dritte Option, den Kartenleser, der meine bei Amazon Prime registrierte Kreditkarte freundlicherweise erkennt. Meine Identität ist erfasst – Whole Foods öffne Dich.
Das schnieke Innere ist elegant und effizient: In 20 Regalgängen gibt’s das volle Sortiment, inklusive Frischprodukte, für die Whole Foods bekannt ist. Während ich freudig zwei Brokkoli-Köpfli direkt in die mitgebrachte Einkaufstasche stecke (Einkaufskorb oder -wagen braucht’s nicht), erinnere ich mich an eine Weisung der Concierge: Falls ich ein gewähltes Produkt nicht wolle, müsse ich es exakt an dieselbe Stelle zurücklegen, von der ich es gepickt hatte.
Ein Blick nach oben erklärt warum: Nicht nur scheint jede Warenauslage mit einem Sensor ausgestattet, der den Griff zum Produkt registriert. Auch ist der Supermarkthimmel über mir voll mit kleinen, schwarzen Überwachungskameras. Während mich «Just Like Heaven» von The Cure berieselt, hängen über 30 seelenlose Elektroaugen pro Regalgang, das heisst mindestens 600 im ganzen Laden, von der Decke und registrieren jede meiner Bewegungen.
Würde ich meinen Brokkoli fälschlicherweise zu den Romanesco-Röslein zurücklegen, könnte das zu Fehlern bei der automatischen Erstellung des Kassenbons führen. Zum Glück wird mir die Quittung später zwei Stück Brokkoli (nicht das Gewicht) bescheinigen. Ich habe alles richtig gemacht.
Nach Besuchen am Brot- und Fleischstand (mit Tresenpersonal aus Fleisch und Blut) und im Alkoholschrank (ohne ID-Check für vier Dosen Bier) scanne ich meine Kreditkarte und latsche unbehelligt, ohne Anstehen, Kasse oder Einpacken aus dem Supermarkt – fast wie ein Ladendieb (der freilich bei all den Überwachungskameras nicht weit käme). Es ist ein kleines vollautomatisches Shopping-Convenience-Wunder.
Auch anderswo sind moderne Supermärkte schwer digital. In China etwa bietet die App von Alibabas «Freshippo»-Supermärkten Online- und Laden-Shopping, Lieferung oder Abholung, und Unmengen digital verfügbarer Produktinformation zu Herkunft, Herstellung und Zertifikaten, getoppt mit individualisierter Weinempfehlung und Kochrezepten. Derlei Daten-Tipps gibt’s bei Whole Foods nicht. Das Konzept beruht auf Einfachheit und Bequemlichkeit.
Gewiss, mein innerer Orwell bleibt skeptisch zu Ethik und Kosten von Kamera-, Sensor- und KI-Technologie, die sich wohl nur durch Skalierung und Personalabbau rechnen (was Whole Foods dementiert). Und ich wette all meine biometrischen Daten, dass die Überwachung meines Auswahl- und Kaufverhaltens enormen Wert bei der Optimierung von Sortiment und Präsentation abwirft. Aber selbst der Skeptiker in mir muss zugeben: Das Ganze funktioniert genial einfach und ist einfach genial. Ich komme wieder.