Verpackungsmesse in Düsseldorf: 55 Kilo Wellpappe pro Kopf jedes Jahr
Auf den ersten Blick hat der Ozean nordöstlich von Hawaii mit Halle A3 der Messe Hamburg an einem grauen Januartag nicht viel zu tun. Bei Hawaii ist es um die 25 Grad warm, das Meer liegt dunkelblau und tief in weichen Wellen. In Halle A3 laufen Männer in Anzügen von Stand zu Stand, begutachten mit Samt etikettierte Weinflaschen und Tüten mit Ventil, in denen Kartoffeln eingeschweißt sind, die man direkt in die Mikrowelle stellen kann. Es gibt Maschinen, die Plastiksäckchen in T-Shirt-Form passgenau befüllen und andere, die Pufffolie am laufenden Meter aufblasen. In Halle A3 ist Verpackungsmesse. Was hier zu sehen ist, ist ein kleiner Einblick in eine gigantische Branche.
Quasi kein Gramm Ware bewegt sich auf dieser Welt ohne Verpackung. Und es wird viel Geld mit ihr verdient, bevor ihre Reste bei Hawaii im Meer schwimmen. Der Gemeinschaftsausschuss deutscher Verpackungshersteller gibt an, dass allein in Deutschland die Packmittelproduzenten 2011 einen Umsatz von 32,1 Milliarden Euro erwirtschaftet haben.
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Die Hüllen, die sie entwickeln, produzieren und befüllen, begleiten Produkte um die Welt und enden, zu einem Teil zumindest, in den riesigen Müllstrudeln der Weltmeere. Einer davon rotiert nordöstlich von Hawaii. Seine Fläche ist so groß wie Westeuropa.
Konsum ist fast immer mit Verpackung verbunden. Dosen und Tetrapaks, Folien, Kartons und Becher nerven manchmal, weil sie nicht gleich aufgehen, manchmal erfreuen oder überraschen sie - meist aber beachten wir die Verpackung gar nicht. Wenn ein Produkt beim Käufer zu Hause angekommen ist, hat sie ihren Sinn erfüllt. Wir entfernen Aludeckel und schneiden Pakete auf, entwirren, wickeln aus, reißen auf, jeden Tag mehrere Male. Gut 95 Prozent unserer Waren sind umhüllt. Hinzu kommt die Verpackung, die man als Endverbraucher oft gar nicht sieht: die der Logistik. Allein an Wellpappe fallen, laut Verband der Wellpappenindustrie, jährlich in Deutschland mehr als 55 Kilogramm pro Person an.
Seit einigen Jahren kommt noch der Onlineversand dazu. DHL verschickt täglich im Schnitt 3,5 Millionen Päckchen und Pakete. Rund 30 Prozent davon gehen wieder zurück, sind sie mit Textilien befüllt, sind es sogar 45 Prozent. Alles ordentlich verpackt.
"Nach der Schutzfunktion ist Werbung das Wichtigste"
Das Gewerbe der Verpackung ist uralt. Zum Schutz und Transport der Güter töpferten schon die Römer Karaffen. Aber vor etwa 60 Jahren änderte sich etwas Entscheidendes: Es entstanden Läden, in denen nicht mehr ein Verkäufer hinter der Theke steht, der den Kunden berät und bedient. In den Supermärkten mussten die Produkte für sich selbst sprechen und sich gegen die Konkurrenz durchsetzen. Verpackung bekam eine neue, zusätzliche Funktion: Sie muss verkaufen.
"Nach der Schutzfunktion ist Werbung das Wichtigste", sagt Klaus Noller vom Fraunhofer-Institut für Verfahrenstechnik und Verpackung in Freising. "Dann kommt bei der Gestaltung die Frage nach dem Preis und zum Schluss ein bisschen die nach der Umwelt."
Die meisten Einkäufe passieren spontan. Zwischen etwa 170.000 anderen muss ein Produkt im Supermarkt die Aufmerksamkeit des Kunden wecken. "Verpackung ist ein Drei-Sekunden-Werbespot", sagt Dirk Rose, der sich selbst und seine Kollegen Verpackungsfreaks nennt. Bei der Agentur Berndt + Partner Packaging Creality beschäftigt sich der "Director Design Strategy" von morgens bis abends mit Grillsaucenflaschen und Kartoffelsalatbechern, seit 20 Jahren. Im Besprechungsraum hängen zwei Schaukeln von der Decke, an der Fensterfront reihen sich meterlang mexikanische Verpackungen wie ein vakuumverschlossenes Thunfischtütchen oder eine Shampooflasche in Form von Ali Babas Wunderlampe. Kein Mitarbeiter hier fährt in den Urlaub, ohne vor Ort die Supermärkte zu durchstöbern. Die Ingenieure, Produkt- und Grafikdesigner beschichten, bedrucken und falten Materialien, sie sprechen mit Müttern oder Jugendlichen, wenn das die Zielgruppen sind, beachten soziologische Theorien und analysieren Tageslaunen.
Mehr als 100.000 Menschen arbeiten in Deutschland am Verpacken
An dem neuen Schokoglasurbecher von Dr. Oetker tüftelte Dirk Rose mit sieben Mitarbeitern rund acht Wochen lang. Das Plastikschälchen hat nun einen Griff, mit dem man es ins Wasserbad hängen kann und zwei Ausgüsse - für Links- und für Rechtshänder. "Wenn der Kunde einen zusätzlichen Nutzen durch die Verpackung erkennt, dann ist er auch bereit, mehr zu zahlen", sagt Rose. Müller-Milch kann für denselben Preis weniger Inhalt verkaufen, wenn das Unternehmen sein Produkt statt in den üblichen Becher in eine wiederverschließbare Flasche füllt, streichbare Teewurst wird häufiger verkauft, wenn sie nicht in einer Wursthülle steckt, sondern in einer Klappschachtel.
Es gibt Faltschachtelberatungsfirmen, Kataloge voller Klebebänder, Blogs über Branchentrends sowie Wettbewerbe und Studiengänge zu Verpackung. Mehr als 100.000 Menschen arbeiten in Deutschland daran, zu verpacken. 2011 umwickelten sie Waren mit insgesamt 19,9 Millionen Tonnen Material.
Und es wird immer mehr. Im selben Jahr stieg in Deutschland der Umsatz mit Packmitteln um acht Prozent auf ein Rekordhoch. Ein Grund: Konsum soll so praktisch wie möglich werden. Nicht wiegen, prüfen, vergleichen - einfach zugreifen, mit einer Hand, fertig. Als die britische Supermarktkette Tesco feststellte, dass der Umsatz mit Kiwis zurückging, ließ das Unternehmen die Früchte einschweißen. Immer fünf in einer Packung, mit bunter Schrift versehen. Seitdem werden sie wieder gekauft, und es gibt nun auch abgepackte Paprika mit Rezept auf der Tüte oder Weintrauben, zehn Stück, als Snack verpackt. Der andere Grund, warum immer weniger Inhalt immer aufwendiger verpackt wird: Der Umsatz steigt, je kleiner die Portion ist. Das beste Beispiel dafür sind die Kaffeekapseln. In einer einzigen ist so wenig drin, dass das Kilo auf den stolzen Preis von rund 80 Euro kommt.
Denkt da denn keiner an die Umwelt? "Dieser Faktor ist ein Riesenthema", sagt Dirk Rose. "Aber ich hatte noch kein Entwicklungsprojekt, bei dem mein Kunde gesagt hatte, kein Problem, der Umwelt zuliebe zahlen wir mehr." Nur wenn es billiger ist, Material bei einer Verpackung wegzulassen, wird es weggelassen. Wenn aber Kosten entstehen, etwa weil eine Maschine neu geeicht oder der Handel umgestellt werden müsste, dann nicht. Und auch der Konsument sei am Ende des Tages nicht immer so umweltbewusst wie er sich selbst gerne beschreibt, sagt Rose.
Eine Firma in Kanada musste das bitter erfahren. Als sie nach vier Jahren Entwicklung eine umweltfreundlichere Tüte für ihre Chips auf den Markt brachte, protestierten die Kunden zu Tausenden auf Facebook, der Verkauf ging um mehr als zehn Prozent zurück. Weil die Tüte anders knisterte. Lauter. Und die Leute ihr Fernsehprogramm nicht mehr so gut hören konnten.
Auch die Abteilung von Klaus Noller am Fraunhofer-Institut entwickelte, zusammen mit Partnern aus der Industrie, eine Methode, um Material zu sparen. Drei Jahre tüftelten sie mit großem Aufwand daran, eine Folie so lange zu dehnen und zu beschichten, dass sie mit der Hälfte des Kunststoffs die gleichen Schutzeigenschaften aufwies. Es gelang. Doch als sie in die Läden kam, um Fertigkuchen, Nüsse und andere Snacks zu umhüllen, kauften die Kunden nicht. Sie vertrauten dem weichen, dünnen Material nicht.
Bei dem Vorschlag, Verpackung einfach wegzulassen, schnappt Dirk Rose nach Luft. Darüber habe er noch nie nachgedacht, sagt er. Und auch Klaus Noller ist skeptisch. "Man darf auf keinen Fall reduzieren, wenn dadurch etwas kaputtgeht", sagt er. Es werde zehnmal mehr Energie in die Herstellung eines Lebensmittels gesteckt als in dessen Verpackung.
Es regt sich Widerstand gegen diese mächtige Branche
Dass Verpackung nachhaltig ist, weil sie vor Verderb schützt, ist auch das Argument der Initiative Save Food. Von Henkel über Nestlé bis Siemens sind rund 100 internationale Unternehmen Mitglied. Mit dem Motto, globale Lebensmittelverluste zu bekämpfen, ist Save Food Gast beim Deutschen Nachhaltigkeitspreis, beim World Food Day und bei den Vereinten Nationen. Aber die Initiative macht nicht nur auf das Problem aufmerksam, sie nennt auch eine Lösung: "Eine unterentwickelte Verpackungsindustrie" sei einer der Gründe dafür, dass Ernteerträge verderben. "Adäquate Verpackungslösungen" würden "dazu beitragen, Verluste zu minimieren". Initiatorin von Save Food ist die Messe Düsseldorf. Eine der engsten Partnerinnen: die Verpackungsmesse interpack.
Doch es regt sich Widerstand gegen diese mächtige Branche. Überall auf der Welt entstehen kleine Inseln des verpackungsfreien Konsums. Ein Lädchen in London war 2007 der Vorreiter, es folgte ein anderes in Texas. Anfang Februar dieses Jahres kam das Lunzers in Wien dazu und "unverpackt" in Kiel. Alle versuchen das angeblich Unmögliche: Sie verkaufen lose Ware. In Berlin planen vier Frauen sogar eine Supermarktkette mit Unverpacktem als Franchise-Modell, Einzelhändler von Amsterdam bis Paris haben schon Ecken in ihren Geschäften eingerichtet, in denen Kunden Produkte in mitgebrachte Behältnisse selbst abfüllen.
Marie Delaperriere ist Betreiberin des ersten deutschen Ladens, der dieser Idee folgt. Die Mutter von drei Kindern ärgerte, dass sie nach jedem Einkauf einen Berg von Müll mit nach Hause brachte, auch wenn sie vom Markt oder Bioladen kam. Sie kündigte ihren Job, um in der Kieler Innenstadt den Laden "unverpackt" zu eröffnen. An den Wänden reihen sich geschlossene Plexiglas- und Edelstahlbehälter mit Zapfhahn, aus denen die Kunden unter anderem Mehl, Öl, Wein, Müsli, Apfelsaft oder Zucker abfüllen können. Es gibt Eier, Oliven, Trockentomaten, Obst und Gemüse. Alles Bio- oder regionale Ware. Wer nichts dabei hat, kann schlichte Glasbehälter kaufen und zur Not Papiertütchen nutzen. Delaperriere möchte noch ein Pfandsystem einführen.
"Ich habe in meiner Heimat Frankreich gesehen, dass das funktioniert und mich gewundert, dass es das hier nicht gibt", sagt sie. Erst dachte sie, es sei vielleicht verboten, aber als sie sich um Zulassungen bei der Lebensmittelüberwachung bemühte, gab es keinerlei Probleme. "Das einzig Schwierige war bisher, Lieferanten zu finden, die Waren in großen Gebinden verkaufen", sagt Delaperriere. "Vor allem bei regionalen Produkten oder wenn man einen besonderen Anspruch wie Bio-Qualität hat, gibt es nicht viele."
Bei Glasreiniger steckt 40 Prozent des Preises in der Verpackung
Marion Ziehrer kennt noch ein anderes Problem: die Kunden. Der Laden Biosphäre, in dem sie arbeitet, liegt in Berlin-Neukölln, dort, wo die Menschen als jung und hip gelten. Umwelt ist ihnen wichtig, aber mehr kosten sollen Lebensmittel lieber nicht. Und sie kaufen eher spontan, auf dem Weg, ohne großen Plan oder mitgebrachte Behälter. Ziehrer erinnert sich noch an die Anfänge der Ökobewegung. "Eierkarton, Stoffbeutel, Milchflaschen, wir hatten beim Einkaufen immer alles dabei", sagt sie. Da will sie wieder hinkommen. Mit ihren Kunden macht sie darum kleine Experimente. Sie hat den Rucola-Salat mit und ohne Schale angeboten, beim Obst und Gemüse die Tüten rationiert. Und sie verkauft seit drei Monaten Reinigungsmittel auch in großen Containern zum Selbstabfüllen. Ihr Fazit: Die Kunden wollen Schalen, Tüten und Verpackungen, "manche sogar für Bananen!" Aber sie hat auch festgestellt: Wenn es keine Verpackung gibt, dann geht es auch ohne. "Als Laden trifft man eine Entscheidung", sagt Marion Ziehrer.
Im März wird sie mit ihren Mitarbeitern eine Wand freiräumen, um Behälter für Nudeln, Dinkel oder Reis zum Selbstabfüllen aufzustellen. Damit den Kunden das Umgewöhnen leichter fällt, denkt sie über ein Bonussystem nach: Wer es schafft, ohne Einwegverpackung einzukaufen, bekommt einen Punkt. Und wer ein paar davon zusammen hat, würde zum Kuchenessen ins Bistro des Ladens eingeladen.
Neben dem Thema Abfall treibt Marion Ziehrer aber noch etwas anderes an: Sie möchte, dass sich alle Menschen gute Produkte leisten können. Die Biosphäre ist ein Non-Profit-Laden. Ziehrer und ihr Team bieten verbilligte Ware für Menschen an, die mit weniger als 850 Euro im Monat auskommen müssen. Auch der Verzicht auf Verpackung hilft beim Sparen.
"Bei 125 Gramm abgepacktem Rucola bezahlt man gut 20 Prozent des Preises für die Schale", sagt Ziehrer. Beim Glasreiniger musste sie dreimal nachrechnen, weil sie es nicht glauben konnte: 40 Prozent des Preises spart, wer die Flasche mit dem Sprühkopf wiederverwendet.
Emilie Florenkowsky und Steffi Wiedenmann von "unverpackt-einkaufen" glauben, dass sich lose Ware aus diesem Grund auch in herkömmlichen Läden durchsetzen kann. Als alternatives Angebot zumindest. Die beiden Unternehmerinnen beraten Einzelhändler, wie diese von Verpackung wegkommen können und vertreiben die nötige Ausstattung dafür. Die Biosphäre war ihr erster Kunde, ihr Ziel, irgendwann, sind Aldi und Lidl. "Gerade dort kaufen Menschen ein, die auf den Preis achten müssen", sagt Emilie Florenkowsky. "Bei loser Ware sparen sie doppelt: Weil sie die Packung nicht mitbezahlen müssen und weil sie nur kaufen, was sie wirklich brauchen. Und wenn es 50 Gramm Grieß sind. Das überzeugt auch Kunden, die sich am Müll gar nicht so stören." So könnte unverpackte Ware ausgerechnet für die Menschen interessant sein, die die Verpackungsindustrie besonders umwirbt: Studenten, Alleinstehende und Senioren, die oft kein Kilo Mehl und keinen halben Liter Ketchup brauchen.
In den USA, wo Emilie Florenkowsky herkommt, ist diese Idee schon in Märkten angekommen, die nichts mit Bio zu tun haben. Die texanische Supermarktkette H-E-B preist auf ihrer Internetseite den täglichen Anti-Grippe-Shot neben großen Steaks "für echte Texaner" und gibt sich auch sonst nicht besonders ökologisch. Das Segment für Selbstabgefülltes wächst trotzdem. "Die Leute mögen die Idee, nur so viel zu kaufen, wie sie brauchen und gleichzeitig Verpackung zu sparen", sagt Yvan Cournoyer, der bei H-E-B für den Bereich zuständig ist. "Am deutlichsten ist es bei den Gewürzen. Die Ersparnisse sind so dramatisch, dass sogar 'ganz normale' Kunden ihre Gewohnheiten ändern."
Dieser Text stammt aus dem Magazin "enorm - Wirtschaft für den Menschen"
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